EuropaTürkei

Rien ne va plus – wenn absolut gar nix mehr geht

Ich hielt Rebecca am Arm fest und mich selbst an einer Regenrinne, sonst wären wir wohlmöglich die komplette Straße hinuntergerutscht. Umwirbelt von tausend Schneeflocken, in einem Viertel, das vielleicht nicht das beste von Istanbul war -gut, dass wir da noch nicht wussten, dass uns einer der schlimmsten Tage unseres Lebens bevorstand.

Schonmal eine Straße hinuntergerutscht? Dann wird’s aber mal Zeit!

Es war schon dunkel, die vereisten und verschneiten Straßen waren das einzig Helle um uns herum. Neben uns versuchten mehrere Männer, einen Kleintransporter den Hang hochzuschieben. Ich bin noch nie in meinem Leben eine skipistenähnliche Straße hinuntergerutscht, aber man soll ja bekanntlich alles mal ausprobieren. Ein paar spärlich bekleidete syrische Straßenkinder bewarfen sich gegenseitig mit Schneebällen, während ich mich an der Regenrinne geklammert auf den Bordstein zurückziehe.

Meine Schuhe waren nass, Rebeccas Schuhe aufgrund des nicht vorhandenen Profils wie Schlittschuhe. Wir beide wussten: Wer zehn Minuten den Hang hinunterschlittert, der muss auch wieder rauf. Wir wussten auch, dass wir durch diese Aktion nicht gesund werden würden. Was wir nicht wussten, war, wo denn das Bistro war, nach dem wir ursprünglich gesucht hatten.

IMG-20150220-WA0015
Surreal – Nachts irgendwo in Istanbul

Der schlimmste Schneesturm seit 28 Jahren in Istanbul – kann man nicht wissen

Seit 28 Jahren gab es nicht mehr so ein Schneegestöber in Istanbul. Schneegestöber, das hört sich herzlichst süß an. Dieser Abend war unsere letzter, nach Plan. Krank, durchnässt und geschwächt, wie wir es immer noch waren, wollten wir unseren letzten Abend eigentlich nur noch als Pyjama Party auf dem Zimmer verbringen. Schon morgen würden wir wieder im warmen Deutschland sein. Pustekuchen.

Der Wecker ging nach einer Stunde Schlaf. Krasse Pyjamaparty! Die Welt außerhalb unseres Zimmers hatte sich in eine Puderwolke verwandelt. In purer Verzweiflung hatte ich mir am Vorabend noch ein paar Gummistiefel gekauft, Typ Leo. Stylisher kann man seinen Abflug gar nicht gestalten denke ich. Und ohne sie wären meine Füße nach drei Metern wieder nass gewesen.

Kein Geld, kein Frühstück, kein Flugzeug

Geld hatten wir nicht mehr. Frühstückslos zogen bzw. trugen wir unsere Koffer Richtung Taksim Platz. Unser Plan war, mit den Öffentlichen zum Flughafen zu kommen. Den Shuttlebus hatten wir schon wieder verpasst. Nach dreimal Fragen hatten wir zumindest ein bisschen Ahnung, welche Bahnen wir nehmen mussten. Aber es dauerte Ewigkeiten. In der Bimmelbahn warfen wir einen Blick auf die Uhr – noch eine Stunde bis zum Abflug. Unmöglich. Wir beschlossen also, ein Taxi zu nehmen. Ich wärmte meine Füße auf den Taxisitzen. Die Zeit lief uns davon. Keine Lira mehr, aber wir konnten in Euro bezahlen. Odysee im Schnessturm.

Viertelstunde vor Abflug am Check-In

Wir erreichten den Schalter von Onur Air eine Viertelstunde vor Abflug. Leicht panisch. Ganz gechillt und relaxt wurden wir empfangen. Wohins denn gehen würde. Ach ja schön, der Pass wurde mit einem kurzen Augenzwinkern kontrolliert, die Koffer noch ganz gemütlich eingeladen. Kein Grund zur Panik, der Flieger sei ein paar Minuten verspätet. Wir beschlossen, erstmal in Ruhe zu frühstücken. Doch dann: Unser Flug war komplett von der Anzeigetafel verschwunden. Wir rannten zum Ausgang. Keiner war mehr da.

Der Flughafen-Albtraum beginnt

Wir wurden von Gate zu Gate weitergeleitet, bis wir endlich heraus bekamen: Unser Flug war gar nicht weg. Und: Er würde auch nicht gehen. Sowie: Man wisse nicht, ob überhaupt etwas fliegt und man müsse wohl zu einem gewissen Transferschalter. Aha soso.

Transferschalter, knappe anderthalb Stunden haben wir dich liebevoll betrachtet und uns gefragt, wie es nun weitergehen soll, hier am beschaulichen Atatürk Flughafen. Von unseren Pässen wurden Kopien gemacht. Warum, wissen wir bis heute nicht. Aber was dann kam, werden wir wohl nie vergessen. Der Flughafen verwandelte sich in einen waschechten türkischen Basar, oder auch nierderrheinischen Wochenmarkt, egal! Ein kleiner runder Mann ging in die Mitte des riesigen Saals mit einem Packen an Reisepässen und rief die Namen aus – für über zweihundert Reisende und ohne Mikrofon. Wir dachten, das wäre der schlimmste Teil des Tages. Weit gefehlt.

DSCN3211
Surreal – Nachts irgendwo in Istanbul

Onur – die schlimmste Fluggesellschaft der Welt?

Nun wurden wir wieder aus dem Sicherheitsbereich rausgelassen und durften unsere Koffer abholen. Jaja, jetzt denkt nicht so entspannt vom Gepäckband. Nein, die Gepäckbänder liefen nämlich gar nicht, sondern neben ihnen standen tausende von Koffern – und jetzt find mal deinen eigenen!

Finde deinen Koffer
Finde deinen Koffer

So, dachten wir, jetzt erstmal ein Käffchen und dann warten bis der nächste Flug geht. Nein. Natürlich nicht. Kommen wir zum absolut schlimmsten Teil des Tages. Onur hatte wieder zugeschlagen. Sechs Stunden standen wir in der Schlange am einzigen Beschwerdeschalter. Hinter dem dreckigen Glas saß exakt eine leicht verängstigte Onur Air Mitarbeiterin, die wahlweise angeschrien oder verächtlich angestarrt wurde, die aber auch nichts tun konnte.

Nach vier Stunden in der Schlange existierten wir einfach nur noch und wurden lediglich davon aufgeschreckt, als ein Mann mit hochrotem Kopf lauthals schreiend gegen die Onur Air Glasscheibe hämmerte. Die Nerven lagen blank. Bei allen. Ich versuchte mich hin und wieder auf meinem Koffer zu setzen bis dieser mir zum achten Mal wegrutschte. Wir waren blasse Hüllen, die nicht mehr redeten und auch gar nichts mehr essen wollten. Sondern einfach nur nach Hause.

Obdachlos in Istanbul

Nach sechs Stunden kamen wir am Schalter an. Alle um uns herum hatten schon aufwändig Unterkünfte organisiert, die natürlich entweder bereits belegt waren oder die Preise massiv angezogen hatten. Denn Dank des Schneesturms ging in Istanbul praktisch nix mehr. Wir versuchten der blassen Frau hinterm Schalter Informationen zu entlocken. Die Antwort war schier: Rufen Sie diese Nummer an. Sie klopfte mit dem Finger auf einen Zettel an der Glasscheibe. Sechs Stunden für nix. Realisieren konnten wir das allerdings nicht mehr. Wir wussten lediglich: Wir waren obdachlos in Istanbul. Auf unbestimmte Zeit.

Ein Gedanke zu „Rien ne va plus – wenn absolut gar nix mehr geht

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.