„Fahrt nicht dorthin, ihr werdet ausgeraubt“, „Shutka ist wie Somalia“, „Ist euch klar, was für Leute dort leben?“, solche und ähnliche Reaktionen hörten wir auf unsere Idee hin, Europas größte Roma-Siedlung zu besuchen. Ob uns das abgeschreckt hat? Ganz im Gegenteil – jetzt waren wir nur noch viel neugieriger!
Es gibt Orte, die Nordmazedonien seinen Besuchern nicht gerne zeigt. Shutka (zu Deutsch „der Witz“) ist einer davon: Die größte Roma-Siedlung Europas liegt nur eine halbe Stunde mit dem Bus vom Zentrum entfernt. Hier, an der Endhaltestelle der Buslinie 19, treffen bittere Armut und Perspektivlosigkeit auf eine tragfähige Infrastruktur und moderne Schulen, hier quälen sich Pferdekarren neben Autos deutscher Hersteller durch die schlammigen Straßen.
Buslinie 19 – von Skopje nach Shutka mit dem Stadtbus
Der Bus war vollgepackt mit Menschen und Einkaufstaschen, angesichts der Pandemie traute man sich kaum zu atmen. Der Bus kämpfte sich von Station zu Station, doch statt leerer zu werden, stiegen immer mehr Menschen hinzu.
Die Buslinie 19 verbindet das Zentrum von Skopje mit der Roma-Siedlung Shutka etwas außerhalb der Stadt. Mit Spannung versuchten wir einen Blick aus den verschmutzten Fenstern zu erhaschen, bemühten uns, irgendeine Veränderung auf den vorbeiziehenden Straßen auszumachen. Doch die Szenerie außerhalb des Buses blieb gleich: Supermärkte, Kreisverkehre, Spaziergänger, Gewerbegebiete.
Roma-Siedlung, so dachten wir – das hörte sich so weit entfernt von dem Skopje an, das wir kennengelernt hatten. Es hörte sich wild und zugleich so bodenständig und ländlich an. In unseren Gedanken reisten wir weit, weit weg von dem urbanen Zentrum der Hauptstadt, durch blühende Felder vorbei an verlasenen Häusern, hinein in ein altes, halb zerfallenes Dorf. Wir machten uns bereit für einen Kulturschock, klammerten uns an unsere Taschen.
Dann stoppte der Bus. Und um uns herum sah es immer noch genauso aus wie vor einer halben Stunde.
Willkommen in Shutka
Mit desinteressierten Mienen verließen die Menschen den Bus. Endhaltestelle. Willkommen in Shutka! Nun standen wir inmitten des Europa-Basars, der nicht einmal ein großer Platz war – sondern eine Hauptstraße mit vielen aneinandergereihten Läden. Egal wohin wir schauten – überall wurde billige asiatische Ware verramscht. Frisches Obst und Gemüse? Kunsthandwerk? Etwas typisch Romamäßiges? Fehlanzeige. Hier ging lediglich über die Ladentheke, was günstig und praktikabel war.
Die Hauptstraße war sehr stressig. Ständig drängten Autos den brüchigen Asphalt entlang, dazwischen erstreckten sich mit Regenwasser gefüllte Schlaglöcher und Schlammspuren. Es gab keine Bürgersteige, also quetschten wir uns an den Ramschläden vorbei weiter in die Siedlung hinein.
Hätte man mich hier ausgesetzt, ohne mir zu sagen, wo ich wäre – ich hätte niemals vermutet, dass ich in der größten Roma-Siedlung Europas bin. Shutka wirkte auf den ersten Blick wie ein ärmlicher Stadtteil von Skopje – was ja, im engeren Sinne, auch stimmte.
Wir erreichten einen kleinen Vorplatz, dessen Eingang mit einem Wagenrad verziert war – ein Symbol der Roma. Hinter dem Platz ging der Markt noch weiter, doch viele Stände hatten schon dicht gemacht. Unsere anfängliche Sorge, man würde uns permanent belagern und anbetteln oder uns durch die Siedlung verfolgen, verflog sehr schnell. Denn uns begegneten ganz andere Gefühlsausdrücke, als erwartet: Verwunderung, Unverständnis und Ignoranz.
Als wir die Straße weiter in die Siedlung hinein liefen, kamen wir uns immer mehr vor wie Fremdkörper. Die Leute ließen einen in Ruhe – doch gleichzeitig fanden sie es höchst seltsam, dass wir da waren. Mehr noch: Sie schauten uns finster und verwundert gleichzeitig an. Eine seltene Kombination.
Ein Pferdekarren kämpfte sich neben uns durch den Schlamm, in den Seitenstraßen waren Kinder mit Fahrrädern unterwegs. Gefährliche Situationen? Überfälle? Verbale Angriffe? Anmachen? Nichts dergleichen. Die Begriffe Langeweile und Normalität – zwei Dinge, die wir bei unserem Ausflug wirklich am wenigsten erwartet hätten – beschrieben die Situation eigentlich ganz gut.
Shutka: Die einzige Roma-Siedlung der Welt mit regionaler Selbstverwaltung
Doch vielleicht ist es genau das, was Shutka zu dem macht, was es eigentlich ist: Die bestorganisierte Roma-Siedlung des Landes, die als einzige der Welt über eine regionale Selbstverwaltung verfügt. Denn hier gibt es im Gegensatz zu vielen anderen Siedlungen eine tragfähige Infrastruktur, Schulen, Kindergärten und sogar ein Schwimmbad. Es gibt einen Bürgermeister (ein früherer Bürgermeister hieß sogar Elvis ;-)) und eine eigene Flagge, mit dem Wagenrad als Symbol.
Später auf unserer Reise begeneten wir zwei Touristen, die behaupteten, Shutka wäre abgeschnitten vom öffentlichen Verkehrsnetz und man käme nur mit Locals dorthin. Ich muss immer noch schmunzeln bei dem Gedanken, wie wir eingequetscht zwischen Kindern und Tüten in die Siedlung getuckert sind. „Abgeschnitten vom öffentlichen Verkehrsnetz“ – das wäre hier gar nicht auszudenken. Shutka ist – auch wenn das viele nicht wahrhaben wollen – ein Teil Skopjes.
In den Schulen lernen die Kinder hier ab der sechsten Klasse Deutsch, neben der Alltagssprache Romani. Trotz ihrer Ausbildung und den Sprachkenntnissen bleibt ihnen der Weg nach Westeuropa jedoch verwehrt. Versuchen sie trotzdem, dort Asyl zu beantragen, wird ihnen der Pass entzogen und sie bleiben hoffnungslos im Vakuum zwischen Nordmazedonien und der EU hängen.
Die Arbeitslosigkeit ist in Shutka sehr hoch, demzufolge leben viele Roma hier auch in bitterer Armut. Hinzu kommt, dass sie häufig Opfer von Vorurteilen seitens der mazedonischen Bevölkerung sind und dadurch oft kaum Zugang zu ärztlicher Versorgung haben.
Eine kleine Cola, bitte
Das Straßenbild wiederholte sich zunehmend: Unfertige Häuser, Menschen in Türeingängen, fette Audis, alte Pferdekarren, ranzige Imbisbuden, laute Musik, Teppiche, die zum Lüften nach draußen gehangen wurden, rußige Satellitenschüsseln. Nach einiger Zeit entschieden wir uns, wieder umzudrehen und uns auf die Suche nach einem Drink zu machen.
Wir entdeckten ein Café an der Hauptstraße – wir waren die einzigen Kunden, es waren doppelt so viele Kellner da. Wir bestellten eine kleine Cola. Was man halt so macht. Bier bzw. Alkohol generell gab es nicht, denn die meisten Roma in Shutka sind muslimischen Glaubens.
Im Café ließen wir unsere Eindrücke mit dem Blick über den Europa-Basar Revue passieren. Nach all den Warnungen hatte ich mein Geld so gut am Körper versteckt, dass ich es beinahe selbst nicht mehr wiederfand. Doch hier wurde nicht gebettelt, nicht gestohlen, nicht gedroht.
Wir hatten uns unaufällig gekleidet, und dennoch spürten wir die Ablehnung – aber nicht durch verbale Angriffe, sondern durch Unverständnis in den Augen der Bewohner.
Man kann sich noch so gut vorbereiten und doch überrascht werden. Ja, auch von Normalität und Langeweile. Und ich liebe es, wenn ich überrascht werde und ich mein vorheriges Bild komplett revidieren muss.
Nach einem kurzen Ausflug zur Moschee und dem neugebauten Kindergarten am Ortseingang stiegen wir wieder in den Bus Nr. 19 in Richtung Skopje. Aber diesmal nicht an der Endhaltestelle! Denn schließlich ist jede Endhaltestelle in die andere Richtung die Starthaltestelle.